Joghurtpickeln, Gehirnforschung und die Macht der Realität

Mit Markus Hanzer starten wir eine neue Gesprächsreihe mit Menschen, die mit ihrer Haltung die Diskussion um einen zeitgemäßen Begriff von Gestaltungsarbeit fördern und beleben.

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Wie lernt man Gestaltung? — Markus Hanzer, Fachbereichsleiter Gestaltung an der FH Vorarlberg in Dornbirn, definiert die Rolle des Gestalters/der Gestalterin radikal neu und stellt zur Diskussion, was Gestaltungsarbeit in einer Welt der vollständig demokratisierten Medienproduktion bewirken kann und soll.
 

Mit deinem Antritt als Fachbereichsleiter war die Entwicklung eines neuen Konzeptes für die Studi-engänge verbunden. Das setzt die Grundfrage voraus: Wo sehen wir die Rolle des Gestalters, der Gestalterin in der Zukunft? Was waren deine wesentlichen Ansätze?

Man hat mich tatsächlich gefragt, wie ich die Zukunft dieses Berufsstandes sehe und ob es bei einer so hohen Marktsättigung an Agenturen überhaupt noch Sinn macht Gestalter und Gestalterinnen auszubilden. Meine Antwort war und ist: Der Beruf des Grafikdesigners, der Kommunikationsdesignerin, Mediendesignerin, den man bisher ausgebildet hat, verliert zunehmend an Bedeutung. Ich halte ihn für verschwindend, ebenso wie das Korbflechten und Scherenschleifen, den Bleisatz oder die Reprotechnik. Ich denke, er ist einer Zeit geschuldet, in der wir kommunikative Bedürfnisse entwickelt haben, aber nicht in der Lage waren diese durch eigene Medienproduktion zu befriedigen. Heute kann jeder ein Foto, einen Text, ein Video produzieren und damit medial kommunizieren, auch ohne Unterstützung durch eine Agentur. Der Rettungsanker für uns Gestalter bestand darin, dass wir behaupten, es gibt bestimmte unumstößliche Regeln, die nur wir kennen und wenn ihr etwas ordentlich gestaltet haben wollt, dann müsst ihr zu uns kommen. Wenn man aber in die Welt hinaus schaut, findet man nur ganz wenige Kommunikate, die diese Regeln auch wirklich gerecht werden. Vieles, was uns in Supermärkten oder auf Plakaten begegnet, folgt nicht den Idealen zum Beispiel einer „Schweizer Typografie“ und scheint dennoch zu funktionieren. 


aus: Markus Hanzer "Krieg der Zeichen"


Was ist es dann, was heute gelehrt – oder sollte man eher sagen: vermittelt – werden müsste? Oder brauchen wir als Gestalter und Gestalterinnen in Zukunft gar keine Ausbildung mehr?

Es gibt im Bereich Grafik und Design etwa zwanzig Ausbildungsgänge in Österreich auf Universitäts- und Hochschulniveau. Die stelle ich nicht in Frage. Wir aber haben einen Studiengang entwickelt, den es in dieser Form in Österreich noch nicht gab. Wir versuchen, „Ärzte für Wahrnehmungsprobleme“ auszubilden. Das ist nicht leicht zu verstehen, trotzdem finde ich es notwendig. Sehr viele Menschen schauen heute täglich mehrere Stunden auf Screens, wo uns Wünsche, Ideen, Vorstellungen präsentiert werden, aber sie gehen kaum noch hinaus und schauen, was unmittelbar wahrzunehmen ist. So verführerisch die „virtuellen Inszenierungen“ auch erscheinen, so sehr laufen wir Gefahr, uns auf etwas zu fixieren das uns schädigen kann. Es gibt etliche Analysen die besagen: Wenn wir nicht umdenken, werden wir nicht mehr lange so weitermachen können. Wir zerstören unserere Ökosysteme, verbrauchen zu viele Ressourcen, schaffen durch technologische Entwicklungen eine Arbeitsmarktsituation, die massive gesellschaftliche Probleme zur Folge haben kann. Deshalb denke ich, es braucht Personen die zuerst einmal gar nichts machen, sondern sich neugierig und interessiert möglichst vorurteilsfrei mit der Welt auseinandersetzen. Und die dann die Zusammenhänge gestalterisch so aufbereiten, dass auch andere einen Blick darauf werfen können, um zu erahnen welche Konsequenzen sich aus den aktuellen Entwicklungen ergeben können. Als Gestalter sind wir in besonderem Maße in der Lage, „Bilder“ zu entwickeln, die neue Sichtweisen zeigen. Damit wir sie miteinander verhandeln können, haben wir gelernt, entsprechende Zeichen zu setzen, und diese dominieren zunehmend unseren Blick auf die Welt. Die Fähigkeit zu gestalten heißt somit auch, etwas anschaubar, diskutierbar, wahrnehmbar zu machen – und daraus ergibt sich die „fatale“ Verantwortung der Gestaltungsarbeit.


Es geht also nicht um das Handwerk um seiner selbst Willen, sondern um die Frage, warum man es überhaupt betreibt. Will man sinnstiftend arbeiten, muss man vor allem darüber nachdenken, in welchem Kontext das geschieht?

Das ist wohl unumgänglich, wenn einem nicht egal ist, wie das Leben für die eigenen Kinder und Enkelkinder sein wird. Ich halte es für dringend nötig, dass es zumindest ein paar Menschen gibt, die nicht weiterhin noch mehr Postwurfsendungen und Imagefilme produzieren – die kann und will ich nicht aufhalten –, sondern die darüber nachdenken, was Sinn macht und was zu tun wäre um auch noch in ein paar Jahren eine lebenswerte Welt vorzufinden. Vieles, was heute als Aufgabe von Grafikern und Agenturen gilt, ist zu hinterfragen. Laut einer Statistik von designaustria beschäftigt sich beispielsweise ein Großteil der Agenturen in Österreich mit dem, was man „Marke“ nennt. – Ich frage mich: Marke – wozu? Macht das überhaupt irgendeinen Sinn? Im Grunde geht es dabei meistens darum, Begehren anzustacheln, irrationale Versprechungen zu machen und Ressourcen zu vergeuden. Auf einem italienischen Markt finde ich fantastisches Obst und Gemüse, das ohne ein einziges Designpickerl auskommt. Im Supermarkt sind wir mit  einer Überfülle an Gestaltung konfrontiert, ohne dadurch zu erfahren, welchen Zusammenhängen sich ein Produkt verdankt. –  Ist die „Marke“ wirklich jenes Thema, dem wir als Gestalter und Gestalterinnen unsere gesamte Energie widmen wollen? Noch ein Logo, noch eine Firmenschrift – brauchen wir das?


Bild aus: Markus Hanzer "Krieg der Zeichen"


Dass dieser Ansatz im universitären Kontext ankommt, ist nachvollziehbar. Wie weit kann man ihn im Arbeitsalltag umsetzen? Ist es für junge Menschen nach dem Studium nicht schwierig, die Schere zwischen Anspruch und Realität zu schließen?

Das ist es vielleicht durchaus, aber ich will deshalb nicht diese Art der Lehre in Frage stellen. Der entscheidende Punkt ist doch der: Warum muss sich jemand Gedanken um Entlohnung machen, der wirklich intensiv an der Verbesserung von Lebensumständen arbeitet und damit Wesentliches für die Gesellschaft leistet, wenn andererseits jemand selbstverständlich dafür bezahlt wird, Postwurfsendungen zu produzieren  die direkt in den Altpapiercontainer wandern? – Wenn wir wirklich „Ärzte für Wahrnehmungsprobleme“ sind und auch nachweisen können, dass wir Menschen helfen und die Sichtbarkeit der Welt erhöhen – warum sollte dafür kein Geld da sein? – Was aber noch viel wichtiger ist: Ich glaube, dass die Zeit relativ bald vorbei sein wird, in der Arbeit wirklich das System ist, über das wir die Ressourcen verteilen. Also bilden wir heute eigentlich für eine Zukunft aus, in der wir selbstbestimmt Dinge tun, die Sinn machen und nicht solche, die Geld bringen. Ich glaube, dass der Fokus auf das Geldverdienen die Welt permanent schlechter macht – und warum sollten wir das als Universität unterstützen – auch wenn es leider im Moment noch der Status Quo der Gesellschaft ist? Ich bin mir natürlich bewusst, dass unsere Unterrichtsarbeit bestenfalls ein Tropfen auf dem heißen Stein ist, aber wenn es mir gelingt, auch nur einige wenige Studierende dazu zu bringen, ein bisschen offener zu denken, dann kann dies ein Keim sein, der vielleicht aufgeht. Mehr kann ich nicht erwarten, ich bin ja nicht größenwahnsinnig. Und trotzdem glaube ich: Wenn wir unseren Nachkommen Chancen einräumen wollen, dann sollten wir unsere Weltbilder überdenken.

Schule und Universität soll also ein Experimentierfeld sein, um über neue Formen von Gesellschaft, von Wirtschaft, von Arbeit nach zudenken und diese Themen gestalterisch umzusetzen? Ein Labor also?

Ich denke dabei an jene Freiheit der Gestaltung, die wir mit Kunst verbinden, auch wenn dieser Begriff oft für Gestaltungsformen verwendet wird, die wenig mit einem kritischen Blick zu schaffen haben. Dadurch, dass Michelangelo die Fresken der Sixtinischen Kapelle gemalt hat, wurde es überhaupt erst möglich, das damals herrschende Weltbild diskursiv zu verhandeln. Ich kann über die Vorstellung eines jüngsten Gerichts erst nachdenken, wenn ich ein Bild davon vor mir haben. Heute wird Kunst als eine Form der Kapitalanlage gesehen und erfüllt nicht immer die Funktion „etwas sichtbar zu machen“, einen Zusammenhang aufzuzeigen, der uns hilft, die Welt anders zu sehen. In genau diesem Bereich gibt es unendlich viel Arbeit für Gestalter und Gestalterinnen, denn gerade die nicht sichtbaren Zusammenhänge sind es, die unser Leben zunehmend bestimmen. Hätten die Etiketten auf den Getränkeflaschen im Supermarkt nicht nur die Aufgabe Begehren erzeugen, sondern würde Gestaltung dazu genutzt, die komplexen Verflechtungen ihrer Produktion sichtbar zu machen, dann würde das möglicherweise das Verhalten der Konsumenten ändern. Dahingehend möchte ich meine Studierenden ausbilden – uns zu helfen, sich in der Welt zurechtzufinden. Entweder ist Gestaltung bedeutungslos, oder unsere Arbeit hat tatsächlich eine Wirkung. Und warum dann nicht eine positive?


 
Was sind die wesentlichen neuen Themen, die auf uns Gestalter und Gestalterinnen zukommen und auf die ihr in der Ausbildung vorbereiten wollt? Haben da Grundlagen wie Typografie oder Ähnliches überhaupt noch Platz ?

Im Grunde brauchen wir Menschen, die in der Lage sind komplexe Situationen zu analysieren und mentale Modelle zu verstehen. Die müssen auf alle Fälle zumindest eben so viel von Gehirnforschung verstehen wie von Typografie. Schriftgestaltung, die sich um einfache Lesbarkeit bemüht, folgt einfachen Regeln, die sich im Grunde auch programmieren lassen. Die Vorgänge im Gehirn hingegen sind komplex. Eine praxisorientiere Ausbildung ist aus meiner Sicht eine, die vermittelt, was Gestaltung tut und die nicht primär darauf abzielt, Produkte herzustellen, von denen wir ohnehin zu viele haben. Die Leute müssen die Fähigkeit lernen, einen Schritt zurückzutreten und Dinge wahrnehmbar zu machen, die wiederum dabei helfen, verantwortungsbewusste Entscheidungen zu treffen. Das wäre auch für Unternehmen dringendst notwendig und wird nur deshalb heute noch nicht so nachgefragt, weil es nur wenige gibt, die eine solche Leistung auch anbieten. Die hoch spezialisierten rein handwerklichen Fähigkeiten werden ohnehin mehr und mehr von Unternehmen selbst ausgebildet. 

Welche Themen werden in der Designforschung zur Zeit zu wenig beachtet?

Grundlagenforschung über Wahrnehmung und die diesbezüglichen Funktionen des Gehirns ist außerordentlich wichtig, aber dafür fehlen die finanziellen Mittel. Wir Gestalter haben noch keine präzise Kenntnis darüber, was mediale Kommunikation im Detail bewirkt. Problematisch ist, dass dieses Wissen heute nicht, für die Allgemeinheit zugänglich, auf Hochschulebene erarbeitet, sondern bei Google, Amazon und Facebook auf Basis von Datenbeständen entwickelt wird, auf die wir keinen Zugriff haben. Wir wären heute erstmals in der in der Lage nachzuvollziehen, welche Ketten-reaktionen in Gang gesetzt werden, wenn wir medial kommunizieren. Glücklicher Weise sind wir in Europa vergleichsweise gut geschützt. Unternehmen in den USA gewinnen über Kameras in immer mehr Geräten erstmals in der Menschheitsgeschichte einen umfassenden Blick auf bislang unbekannte Wirkungszusammenhänge. Da dieses Wissen massiv missbraucht werden kann, sollten wir uns der Thematik nicht verschließen.

Kann Design in Zukunft noch in der Form wie heute verstanden werden – als bewusste Gestaltungsaufgabe eines Büros, eines Menschen?

Ich denke, größere Unternehmen werden auf „datenbasierte Anwendungen“ nicht verzichten. Die Entwicklung geht stark weg vom Massenmarkt hin zu personalisierten Produkten und Angeboten. Vielleicht werden Shirts, Turnschuhe oder Fahrräder in Zukunft erst nach einer individuell  konfigurierten Bestellung für mich hergestellt. Und braucht es dann noch so viele Gestalter? – Die derzeit angeblich wertvollsten Marken der Welt wie Facebook, Google oder Amazon haben, im Verhältnis zu traditionellen „Consumer Brands“, vergleichsweise wenige Gestal-tungsaufgaben an Agenturen vergeben. Unsere Energien können sich also auf neue Ziele richten: Auf das Sichtbarmachen des Unsichtbaren, auf das Hinterfragen aktueller Bedingungen und auf die Moderation des friedlichen Zusammenlebens in einer Welt der Diversität. Dazu braucht es den Arzt, die Ärztin für Wahrnehmungsprobleme.

 
Foto: Peter Putz
Foto: Peter Putz

Markus Hanzer, 1955 in Wien geboren, hat bei  Oswald Oberhuber und Bazon Brock studiert. Er war  als freier Illustrator und Grafiker, Chefdesigner von  SAT 1, Leiter der ORF Grafik und als Creative Director bei DMC in Wien tätig und gilt heute als anerkannter  Kommunikationsexperte mit dem Schwerpunkt  digitale Medien und bewegte Bilder. Seit 2015 ist  er Fach bereichsleiter für Gestaltung an der FH  Vorarlberg und unterrichtet an mehreren weiteren Hochschulen unter anderem an der Universität  für angewandte Kunst in Wien sowie der Kunst­universität Linz.

Die Abbildungen stammen aus dem Buch: Krieg der Zeichen, Markus Hanzer Hermann Schmidt Verlag, 2009

 

 

 

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