Gelten die klassischen Regeln der Buchgestaltung heute noch? Wenn nicht: Welche gelten dann? Braucht es überhaupt Regeln?– Gerd Fleischmann, Typograf, Gestalter, Lehrer und Autor aus Deutschland, skizziert aus der Erfahrung jahrzehntelanger gestalterischer Tätigkeit in einer gleichermaßen fiktiven wie hellsichtigen Begegnung mit dem Buchgestalter des 20. Jahrhunderts, Jan Tschichold, Überlegungen zur Zukunft der Buchgestaltung.
Jan Tschichold (1902–1974) gilt als der wohl berühmteste Typograph und Buchgestalter des 20. Jahrhunderts. Sein Handwerk erlernte er schon früh, vor dem Studium, bei seinem Vater, einem Schriftenmaler. In den 1930er-Jahren wurde er zum prominentesten Vertreter der „Neuen Typografie“ im Umfeld des Bauhauses, deren Hauptmerkmale Asymmetrie, die Verwendung serifenloser Schriften sowie die dynamische Verbindung aus Typografie und Fotografie waren. 1933, unmittelbar nach der Machübernahme der Nationalsozialisten, wurde er wegen seiner vermeintlich „linken“ Gestaltungsauffassungen mit einem Lehrverbot an der Münchener Meisterschule für Typografie belegt (wohin ihn Paul Renner, der Schöpfer der Schrifttype „Futura“, 1926 berief). Danach folgte nicht nur die Emigration in die Schweiz, sondern zur Überraschung vieler auch die Abkehr von der zuvor proklamierten „neuen“ Grafik und eine theoretisch gründlich fundierte, neuerliche Hinwendung zur „klassischen“ Buchgestaltung. ¶ Jan Tschichold sorgte mit dieser Kehrtwende weltweit für Aufsehen, und neben seinem außergewöhnlichen Wirken als Gestalter und Typograf besteht darin ein wichtiger Grund, warum seine Person bis heute als Referenzpunkt für aktuelle Diskussionen zur Buchgestaltung dient.
Gerd Fleischmann, selbst herausragender Typograf und Gestalter, hat Tschichold in einem bemerkenswerten, kleinen Bändchen mit dem Titel „Tschichold – na und?“ wieder und neu gelesen. Entstanden ist eine Tour d’Horizon zur gegenwärtigen Situation der Buchgestaltung und des Buchmarktes. In kürzeren und längeren Miniaturen erinnert er an Tschichold und seine Hauptthesen ebenso, wie er seine Ansichten im Lichte der Gegenwart kritisch hinterfrägt.
Was für Fleischmann zentral ist: Die Bedeutung der gleichermaßen genauen wie ironisch-kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte: „Ohne Vor-Bilder entsteht nichts“, meint er, „auf der einen Seite kann man so weitermachen, wie es immer gemacht wurde. Auf der anderen Seite kann man sich gegen die Tradition wenden und Neues versuchen“. Er zitiert Hans Rudolf Bosshard, wonach „Gesetze, Regeln, Konstruktionen und Proportionen den gestalterischen Prozess wohl unterstützen können, aber keine Garantie für gute Gestaltung sind. Die Beschäftigung mit der Geschichte der Typografie schafft Überblick und Einsicht, doch mahnt er zu Skepsis gegenüber Vorbildern. Für die eigene Arbeit ist eine gewisse Distanz zur Tradition nötig – sollte man dennoch auf sie zurückgreifen, braucht es ein gutes Maß an ironischer Brechung“.
Gerd Fleischmann, geboren 1939 in Nürnberg, seit 1954 zahlreiche Reisen durch Europa, die Türkei und Nordafrika. Studium (u.a. Mathematik, Physik, später Kunsterzeihung, Fotografie, Malerei) in Erlangen und Berlin. 1965 Beginn als Büchermacher unter dem Pseudonym Lorenz Frank; Autor, Fotograf, Typograf, Mitbegründer des „Forum Typografie“ ;1970–71 Institut für Kommunikatonsplanung, Bonn; 1971–2003 Lehrer am Fachbereich Design der Fachhochschule Bielefeld / Gastprofessuren u. a. in Dublin, Halifax, Nova Scotia, Hanoi und San José / Projekte und Ausstellungen zur NS-Vergangenheit.
Literatur:
Gerd Fleischmann: Tschichold – na und? Wallstein Verlag, 2013
Der Band von Gerd Fleischmann erschien als Band 3 der von Klaus Detjen herausgegebenen Reihe „Ästhetik des Buches“. In dieser bemerkenswerten Reihe des Wallstein Verlags erschienen bis dato 8 Bände – u.a. von Friedrich Forssmann, Hans Rudolf Bosshard und Günter Karl Bose –, jeder für sich ein zeitloses Dokument von bedeutenden Gestaltern zu Positionen gegenwärtiger Buchgestaltung und Buchkultur.
www.buero-fleischmann.de
http://thinkingform.com/author/admin/#/2013/04/02/thinking-jan-tschichold-04-02-1902-2/
http://www.typolexikon.de/tschichold-jan/
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Rückblick:
Schöne und anregende Gedanken zum Buch als solches. Wir lieben es ohnehin...
Fotos. Thomas Schrott /CDS Schrott